Ted Grant

Eine Analyse der sozialen Basis der Sowjetunion — und warum wir sie verteidigen


Geschrieben: Sommer 1941
Übersetzung: Wolfram Klein
HTML : Maarten Vanheuverswyn


Der russisch-deutsche Krieg tritt jetzt in seinen zweiten Monat und das gibt die Gelegenheit, das Kräfteverhältnis zu messen. Es ist klar, dass der heroische Widerstand der russischen ArbeiterInnen und BäuerInnen zum ersten Mal die Schläge der deutschen Blitzkriegsmaschine aufgehalten hat. Der bittere Widerstand der sowjetischen Soldaten hat den Zeitplan der Nazis völlig durcheinander gebracht. Schon müssen die deutschen Soldaten einen so hohen Preis für ihre territorialen Gewinne zahlen, dass die sowjetische Behauptung, sie hätten der deutschen Armee eine Million Verluste zugefügt nicht sehr übertrieben sei kann.

Zusätzlich dazu beraubt die von Stalin verkündete Politik der „verbrannten Erde“, die Nazis völlig aller unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteile in den von ihren Truppen besetzten Gebieten. Sie erobern nur ausgebrannte Ruinen und Verwüstung. Hitler hatte sich auf seine Erfahrungen im Westen verlassen und einen verhältnismäßig sauberen und leichten Sieg erwartet. Obendrein hatte die Erfahrung des finnischen Krieges, der unter den Massen des russischen Volkes entschieden unpopulär war, die deutschen Imperialisten dazu geführt, die Kräfte des Widerstand der Massen völlig zu unterschätzen, wenn sie sich selbst gegen einen imperialistischen Angriff verteidigen. Napoleon, den Hitler wie einen Neuling auf dem Feld der Welteroberung erscheinen lassen wollte, hätte seinem Möchtegernnachahmer im voraus erklären können, dass der moralische Faktor zum physikalischen Faktor im Verhältnis drei zu eins steht.

Die deutschen Kapitalisten und, was das betrifft, auch der Weltkapitalismus, verließen sich auf die Unterdrückung der russischen ArbeiterInnen und BäuerInnen durch die unkontrollierte Bürokratie und redeten sich selbst ein, dass das russische Volk ohne kostspielige Kriegsanstrengungen überwältigt werden könne. Trotzki hatte vorausgesagt, dass die Ideen der japanischen Militaristen und deutschen Faschisten, dass das russische Volk nur auf die Armeen des japanischen Kaisers und Hitlers warte, um von ihnen „befreit“ zu werden, eine fantastische Wahnvorstellung war. Die Kapitulationen Stalins in den vergangenen zwei Jahren ermutigten diesen Glauben in den Köpfen der deutschen Militärclique. Trotz der verheerenden Auswirkungen der Bürokratie bleiben die Haupterrungenschaften der Oktoberrevolution weiterhin: die Kapitalistenkasse hat nie ihren Besitz zurückerlangt und das Privateigentum an den Produktionsmitteln wurde nie wiederhergestellt. Trotz der Abneigung gegen die Bürokratie haben sich die Massen gesammelt, um das zu verteidigen, so wie die britischen ArbeiterInnen sich zur Verteidigung ihrer Gewerkschaften gegen kapitalistische Angriffe sammeln würden, trotz ihrer Abneigung gegen die Bevins und Citrines.

Bis jetzt hatte die Naziarmee keine ernsthafte Probe. In Frankreich sorgte sich die Bourgeoisie nur um die Rettung ihres Eigentums und kapitulierte in dem Augenblick, in dem die Deutschen durchgebrochen waren. Die französischen Soldaten und ArbeiterInnen waren durch die Stalinisten und die Taten der Bourgeoisie demoralisiert worden und moralisch hilflos, was zu nur halbherzigem Widerstand führte. Entsprechend verkaufte die Bourgeoisie in anderen Ländern aus, und die deutsche Militärmaschine marschierte durch Europa, als wäre sie im Manöver. Dies gab den Nazis die Illusion der Unbesieglichkeit.

Aber heute muss Goebbels zugeben, dass der russische Soldat bis zum Tod kämpft. „Wenn die Maschinengewehre durch Panzer ausgeschaltet sind, kapituliert der mongolische Soldat nicht; er kämpft mit dem Revolver weiter.“ Und hinter den deutschen Vormarschlinien bleibt die Bevölkerung bitter feindselig und setzt einen Partisanenkampf fort. Diese Welle der Begeisterung und Selbstaufopferung hat den deutschen Vormarsch aufgehalten. Mit einer richtigen Politik würde das den Sieg der russischen ArbeiterInnen und BäuerInnen über die Nazi-Militärmaschine und die Errichtung eines sozialistischen Europas garantieren. Aber wie vorherzusehen war, kann Stalin keinen revolutionären Krieg führen.

Die Bürokratie in Russland bekämpft Hitler, weil er ihr keine Alternative lässt, und daher verteidigt sie auf verzerrte Weise die Sowjetunion. Die Sowjetbürokratie — die Armeeoffiziere, Manager, Techniker, Künstler und hohe Beamte, die etwa 10 Millionen zählen — möchten weiterhin vier Fünftel der Konsumgüter verschlingen, während der Rest ein Fünftel verbraucht, und dafür kämpfen sie. Aber obwohl Stalin eine Niederlage Hitlers ersehnt, wünscht er keine proletarische Revolution in Deutschland. Denn eine sozialistische Revolution in Deutschland würde ein sozialistisches Europa bedeuten. Und ein sozialistisches Europa würde bedeuten, dass die über ihren Sieg mit Selbstvertrauen erfüllten siegreichen russischen ArbeiterInnen und BäuerInnen heimkehren und bald ihre Rechnung mit den Leuten, die im Kreml die Macht an sich gerissen haben, begleichen und sofort die Kontrolle wieder in ihre Hände nehmen würden. Der Stalinismus kam nur auf der Grundlage der Niederlagen der Weltarbeiterklasse an die Macht. Ein Sieg von so gigantischen Ausmaßen wie die Machtübernahme durch das deutsche Proletariat würde den Stalinismus beiseitefegen!

Die organischen Bedürfnisse der Bürokratie in der Innenpolitik finden ihren Ausdruck in der Außenpolitik Stalins. Wenn sie ihr Vertrauen in die europäische und Weltarbeiterklasse gesetzt hätten, mit konsequenten täglichen Flugblättern und Radioappellen an die deutschen ArbeiterInnen, in denen sie den wirklichen Charakter des Krieges auf Seiten der Naziherrscher erklärten und zur brüderlicher Zusammenarbeit beim Aufbau eines sozialistischen Deutschlands aufgefordert hätten — das wäre in Verbindung mit dem unnachgiebigen Widerstand der russischen ArbeiterInnen und BäuerInnen das Signal für die Umgestaltung der ganzen Weltlage gewesen und hätte die Totenglocke für den Weltkapitalismus geläutet. Statt dieser unwiderlegbaren leninistischen Position sehen wir das Vertrauen auf Churchill und Roosevelt, die „demokratischen“ Imperialisten. Nicht nur täuscht die Komintern die russischen Massen über den Charakter der gefräßigen Imperialisten Britanniens und Amerikas, sondern sie verbreitet Illusionen unter der ganzen Weltarbeiterklasse, dass sie für die Freiheit aller Nationen kämpfen würden. In Radio Moskau hören wir:

„Als die deutschen faschistischen Horden an den Ufern der Straße von Dover und dem Ärmelkanal erschienen und voreilig ihren Sieg über das demokratische Britannien feierten, zeigten die Briten im Augenblick der Todesgefahr, dass sie unter der Führung ihrer weitsichtigen Staatsmänner fähig waren, die in ihnen verborgene gigantische Stärke zu entwickeln.“

In der „Times“ vom 17. Juli lesen wir:

„Wie es in den kleineren Krisen der letzten Jahre geschah strömten Resolutionen aus den Fabriken und landwirtschaftlichen Betrieben der ganzen Union nach Moskau. Ein Wort aus Moskau kann gewöhnlich zu jeder Zeit solche Resolutionen bringen. In der Vergangenheit waren sie nicht ganz spontan, aber ihre Formulierung ist jetzt bedeutsam. Die anglo-sowjetische Allianz wird nicht nur in den Moskauer Zeitungen gefeiert: sie wird in allen diesen Resolutionen begrüßt und gepriesen, ein Beweis, dass sich die Sowjetregierung nicht fürchtet, selbst die isoliertesten Zentren wissen zu lassen, dass sie sich mit der Macht verbunden hat, die sie kürzlich noch als imperialistisch und kapitalistisch angeprangert hat.“

Und Stalin sagt uns in seiner Rede:

„In dieser Verbindung zeigen die historischen Äußerungen des britischen Premierministers Churchill und die Erklärung der Regierung der Vereinigten Staaten bezüglich Hilfe für die Sowjetunion Bereitschaft an, unserem Land Hilfe zu geben, was in den Herzen der Völker der Sowjetunion nur ein Gefühl der Dankbarkeit hervorrufen kann. Sie sind voll verständlich und symptomatisch.“

So sehen wir die bewusste Täuschung der Massen in der Sowjetunion bezüglich der wirklichen Ziele des anglo-amerikanischen Imperialismus, der Ziele der Weltherrschaft für die fortgesetzte Ausbeutung der Völker des ganzen Erdballs und vor allem die langfristige Perspektive der Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion.

Auf der anderen Seite haben Churchill und die bürgerlichen Staatsmänner offen ihre Verachtung für den Kommunismus erklärt und durch Andeutungen den Klassen, die sie vertreten, klargemacht, dass sie zu einer passenderen Zeit diese Rechnung zu begleichen planen. Mr. Churchill nimmt kein Wort von dem zurück, was er in der Vergangenheit über den Kommunismus gesagt hat. Und Churchill hat zum Ausdruck gebracht, dass er Hitlers Nazimus dem Bolschewismus vorzieht. Die Unterstützung, die Churchill geben wird, beruht nur auf dem Wissen der Weltbourgeoisie über die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus. Die nationalistische Scharlatanerie, die von Moskau ausgeht, hat das voll gerechtfertigt. Wenn es nicht so wäre, würde sich Churchill an Hitler als den Retter vor der Gefahr des Bolschewismus klammern.

Churchill und Roosevelt sind zuversichtlich über die Rolle der stalinistischen Bürokratie innerhalb und außerhalb Russlands und kalkulieren mit der wechselseitigen Erschöpfung Deutschlands und Russlands. Ein türkischer Journalist drückte es so aus: Wäre es nicht fein, wenn sich Hitler und Stalin gegenseitig k.o. schlagen würden?“ Der anglo-amerikanische Imperialismus wird dann in der Lage sein, das Sowjetregime zu zerstören und zum Herrn der Welt werden. Der Widerstand in Russland hat sie so sehr überrascht wie Deutschland. Ein langgezogener Widerstand und die mit ihm unausweichlich verbundene Drohung der Revolution in Europa würden Hitler zwingen, auf Kosten Russlands ein Abkommen zu suchen, und Hitler wäre gezwungen, die Rolle zu spielen, die ihm die Weltfinanz ursprünglich übertragen hat.

Die innere Entwicklung der Sowjetunion

Aber was wird innerhalb der Sowjetunion stattfinden? Um sich selbst zu retten, muss Stalin an die revolutionären Energien der Massen appellieren und erneut zig Millionen ArbeiterInnen und BäuerInnen bewaffnen. Diese Massen werden sich die Verbrechen und Dummheiten der Bürokratie nicht lange andrehen lassen. Die verderblichen Wirkungen von Missmanagement, Ineffizienz und Korruption, die typisch für eine unkontrollierte und unwissende Bürokratie sind, werden unter dem Druck des Krieges nur noch deutlicher sein. Inzwischen wird der Krieg eine schreckliche Belastung für die Industrie und das Transportwesen der Sowjetunion darstellen und die Entbehrungen der Massen werden unausweichlich größer werden, im Interesse von „Alles für die Front“. Diese Politik kann nur durchgeführt werden, ohne berechtigte scharfe Unzufriedenheit hervorzurufen, wenn die Opfer wie zu Lenins Zeiten mehr oder weniger gleich über die ganze Bevölkerung verteilt sind.

Im Verlauf des Krieges werden die Extravaganz und Korruption der Generäle, Admiräle und anderer hoher Bürokraten den äußersten Widerwillen und Feindseligkeit unter den Massen hervorrufen. Das ist der Grund für die beispiellosen chauvinistischen Appelle auf der Grundlage der „nationalen Einheit“. Lenin lehrte uns immer, unter die Formeln und Losungen nach dem sozialen Inhalt zu schauen. In kapitalistischen Staaten ist der Appell zu „nationaler Einheit“, „Burgfrieden“ in Kriegszeiten ein Deckmantel, um die Interessengegensätze in der gegebenen Gesellschaft zu übertünchen. Natürlich ist es in Russland heute richtig, zur Verteidigung des Vaterlandes aufzurufen — aber in Lenins Tagen wäre die Betonung wie immer auf dem Vaterland der ArbeiterInnen gewesen. Die Verteidigung des russischen Arbeiterstaats wäre die Verteidigung der ganzen Weltarbeiterklasse, besonders der ArbeiterInnen in Europa und Deutschland.

Unter dem Feuer der britischen Geschütze in den Interventionskriegen [1918-21] appellierten die Bolschewiki in der inneren und äußeren Propaganda an die russischen SoldatInnen, die gegen die Briten kämpften: „Wir vergessen nie, während englische Geschütze und englische Bomben und englische Soldaten den Tod auf uns regnen lassen, dass es zwei Englands gibt, das England der ArbeiterInnen und das England der Finanzkapitalisten.“ Der Grund, warum die Sowjetbürokratie diesen einfachen und wahren Aufruf nach innen und außen nicht machen kann, liegt an der tiefen Kluft, die sich zwischen dem Volk und den gierigen Beamten aufgetan hat. Dies ist der soziale Inhalt des Appells für „nationale Einheit“ innerhalb der Sowjetunion.

Wenn die Nazis, wie wir hoffen, keine entscheidenden Siege erringen — was das beste ist, was man bei der stalinistischen Kontrolle erhoffen kann, wird der Krieg ein blutiger Abnutzungs- und Erschöpfungskrieg werden und die Widersprüche in der Sowjetgesellschaft werden ihre äußerste Grenze erreichen, hinter der es zu einer Explosion kommen muss.

Wie bei allen dem Untergang geweihten Regimen zeigt sich Stalins Inanspruchnahme durch die Bewahrung seiner Stellung in den Maßnahmen, die er der Armee diktiert hat. Das Aufspalten der Front in drei Kommandos wird nicht durch militärische Notwendigkeiten der Sowjetunion diktiert. Im Krieg ist ein einheitliches Kommando offensichtlich das beste Mittel, die Operationen an den Fronten als geplantes Ganzes zu führen. Stalins Entfernung von Timoschenko als Oberkommandierenden wird diktiert durch die Furcht, dass die Macht aus den Händen der Zivilbürokratie in die der Armeekaste entgleiten wird. Nach dem finnischen Krieg war die Abschaffung der Kontrolle durch die Politkommissare, die in Wirklichkeit die GPU-Aufpasser der zivilen Bürokratie waren, ein Sieg für die Armeekaste. Stalin war durch die verheerenden Folgen der GPU-Kontrolle und Säuberungen dazu gezwungen, den Generälen freiere Hand zu geben. Aber jetzt hat Stalin aus Angst um seine Stellung, selbst im Angesicht des mächtigsten Feindes der Weltgeschichte, erneut die GPU eingeführt, um seine Kontrolle in der Armee von unten wie von oben zu sichern. Aber auf alle Fälle wird das nicht verhindern, dass in einem späteren Stadium die Macht in die Hände der Militärbürokratie übergeht, wie in allen bonapartistischen Regimen.

In Industrie und Transportwesen werden die Konzernchefs durch die Störung der Wirtschaft immer mehr gezwungen sein, zu handeln, als wären sie die Eigentümer der Unternehmen. Die Planwirtschaft, die die bewusste Zusammenarbeit, Tätigkeit und Kontrolle durch die Massen voraussetzt, schaffte es trotz der bürokratischen Zwangsjacke, in Friedenszeiten einen Schein von einheitlichem Fortschritt zu bewahren. In Kriegszeiten bedeutet der bürokratische Würgegriff, dass die Planwirtschaft insgesamt zerbrechen muss. Der „Fünfzehnjahresplan“ von 1941 ist automatisch gestrichen. Unter der Verschärfung der Widersprüche, wobei die Prozesse durch den Krieg beschleunigt werden, wird ein Teil der bürokratischen Spitzen tendenziell die Unterstützung durch die kapitalistischen „Alliierten“ suchen, um die Widersprüche durch die Restauration des Kapitalismus zu lösen.

Auf der anderen Seite werden die ArbeiterInnen und BäuerInnen, die die Hauptlast des Krieges tragen, bewaffnet werden (zugegebenermaßen unter der Kontrolle der GPU) und während sie in der Vergangenheit den Alten vom Meer auf ihrem Buckel aus Angst vor einer schlimmeren Alternative in der Gestalt der kapitalistischen Intervention geduldet haben, werden sie mit nicht allzu nachsichtigen Augen auf die Exzesse und Ineffizienzen der Bürokratie schauen. Im Verlauf der Zeit wird es immer deutlicher werden, dass die bürokratische Kontrolle die Organisation der Verteidigung der Sowjetunion lähmt. Es wird deutlich werden, dass nur die Wiederherstellung von Arbeiterkontrolle in den Fabriken, die Wiederherstellung von Sowjets und Sowjetdemokratie den Arbeiterstaat vor der Katastrophe retten kann. Zu dieser Zeit wird das Programm von Lenin und Trotzki verjüngt werden.

Der utopische Charakter des Traums vom „Sozialismus in einem Lande“ wurde durch den Naziangriff nebenbei zerstört. Was auch immer das Ergebnis des Kampfes sein wird, es ist offensichtlich, dass die Wirtschaft der Sowjetunion schrecklich erschüttert und geschwächt sein wird. Die Politik der „verbrannten Erde“ ist mit einer revolutionären Perspektive natürlich die einzig richtige. Trotzdem ist es eine Politik der Verzweiflung. Zig Millionen Menschen werden in das Innere der Sowjetunion fliehen; die verheerten Regionen werden Jahre zum Wiederaufbau brauchen. Selbst nach einem Sieg wäre die Sowjetwirtschaft immer abhängiger von den reichen und mächtigen „Demokratien“ des Westens.

Selbst unter dem Zarismus bluteten die bürgerlichen Demokratien Russland bezüglich der Soldaten und Wirtschaft aus. In den Salons von Petrograd witzelten die Bourgeois, dass „England bereit ist zu kämpfen bis zum letzten Blutstropfen … des russischen Soldaten.“ In dieser Periode bekämpfte die alliierte Bourgeoisie zwar den deutschen Imperialismus im Bündnis mit Russland, war aber nicht abgeneigt, Russland in eine anglo-französische Kolonie zu verwandeln. Das war zu einer Zeit, wo sie den russischen Zarismus als Bollwerk der europäischen Reaktion stützten. Heute ist es klar, dass Washington und London den Angriff Hitlers als Geschenk der Vorsehung betrachten, um zugleich den mächtigen deutschen Rivalen auszubluten und eine günstige Position für die Erdrosselung des Arbeiterstaats zu erlangen. Der Gegensatz zwischen dem Kollektiveigentum Russlands und der kapitalistischen Welt ist der grundlegendste aller Gegensätze innerhalb der heutigen Gesellschaft.

Deshalb kann das Sowjetregime trotz aller Zugeständnisse und Katzbuckeln der Bürokratie selbst in geschwächter Form nicht gerettet werden, ohne dass die Intervention der ArbeiterInnen in den kapitalistischen Staaten stattfindet. Wenn es der Weltkapitalismus schafft, den gegenwärtigen blutigen Krieg zu überleben, den er auf die Menschheit losgelassen hat, wird Russland wie der Rest der Welt dem Versinken in faschistischer Barbarei nicht entgehen, egal wer Sieger ist, und es wird der Vorbote der kapitalistischen Konterrevolution sein.

Das Ende der Komintern als Internationale

Diese harte, aber nüchterne Berechnung der Entwicklung der Ereignisse spielt bei Churchill und Roosevelt eine Rolle. Stalin hilft ihnen mit all seiner Macht, ihre Berechnungen Wirklichkeit werden zu lassen. Die prostituierte Komintern, nachdem sie zusammen mit Öl und Mangan zur Beschwichtigung Hitlers verkauft worden war, wird jetzt gegen das Versprechen von Maschinen und Spitfire-Flugzeugen verschachert. Nicht nur in den alliierten Ländern, sondern auch in den besetzten Gebieten tanzt die Komintern nach Churchills Pfeife. In Frankreich und der Tschechoslowakei, wo die Kommunistische Partei wahrscheinlich die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiterklasse hat, stellen sie jetzt ihre Anhänger unter das Banner von de Gaulle und Benes, die London und nichts sonst vertreten.

Aber die Berechnungen des Weltimperialismus sind auf Treibsand gebaut. In Deutschland und Europa sind die Widersprüche viel mehr als in der Sowjetunion selbst bis zum Zerreißen angespannt: zwischen den deutschen Imperialisten auf der einen Seite und den deutschen ArbeiterInnen und BäuerInnen auf der anderen Seite, zwischen dem deutschen Imperialismus und den unterdrückten ArbeiterInnen und BäuerInnen der besiegten Nationen. Die Entwicklung des Krieges wird allen fünf Kontinenten eine Ernte von „Blut, Schufterei, Tränen und Schweiß“ bringen, die der Kapitalismus gesät hat. Die gewaltsame Reaktion der Massen auf dieses blutige und sinnlose Gemetzel wird mit absoluter Gewissheit kommen. Und die Trotzkisten stützen ihr Programm auf diese optimistische Perspektive.

In Britannien lacht sich die Bourgeoisie ins Fäustchen, dass die „rote Gefahr“ durch den Verrat der Kommunistischen Partei vertrieben ist. Die „Times“ stellt mit Befriedigung fest, dass Hitlers Einmarsch nach Russland „die abweichende Kommunistische Minderheit hinter die nationale Anstrengung gestellt“ hat. Man kann hoffen, dass das die letzte Wendung der schon schwindeligen Komintern war. Das revolutionäre Element innerhalb der Kommunistischen Partei wird sich nicht lange in Unterstützung für Churchill zwingen lassen. Vielleicht war es ein Glück, dass es die Komintern nie geschafft hat, in die entscheidenden Teile der britischen Arbeiterklasse einzudringen und sie zu korrumpieren. In Europa ist die Peitsche des Faschismus der Preis, den die Arbeiterklasse für die Verbrechen der Sozialdemokratie und des Stalinismus gezahlt hat. Aber wir in Britannien haben die Gelegenheit, aus den Lehren der vergangenen Jahrzehnte Nutzen zu ziehen. Die britische Arbeiterklasse kann eine entscheidende Rolle bei der Zerstörung der europäischen Reaktion spielen und das, was von der Oktoberrevolution bleibt, retten und regenerieren, aber nur indem sie einen um so unerbittlicheren und unversöhnlichen Kampf gegen die Regierung des Finanzkapitals führt. Das Programm der Vierten Internationale allein tritt für solch einen Weg ein und die revolutionären Elemente der Kommunistischen Partei, die schon mit ihren Füßen abstimmen, müssen zu unserem Banner gezogen werden.

Das Schicksal der ArbeiterInnen Europas und der Welt wurde durch den imperialistischen Krieg verknotet. Entweder ein sozialistisches Britannien und ein sozialistisches Europa oder ein faschistisches Britannien und Europa und die Zerstörung der UdSSR als Arbeiterstaat.